Nachtflug

Den Erfindern der Sommerzeit habe ich es zu verdanken, dass ich abends immer im Dunkeln heimradeln darf, sobald der Herbst ein wenig auf Touren kommt. Man kann über den Sinn und Unsinn der Sommerzeit streiten wie man will: plötzlich ist es pünktlich zum Feierabend zappenduster da draußen. Für den radelnden Werktätigen bedeutet dies eine gewaltige Umstellung, die gewissen Risiken mit sich bringt, an welche er zu Sommerzeiten (also jahreszeitlich gesehen) nicht mal im Traum denkt. Außerdem wird Radfahren auf einmal gefährlich.
Warum?
Genau davon handelt dieser (und vermutlich auch der nächste) Artikel.

Ich muss ein wenig ausholen und ein paar Worte zu einer meiner Gewohnheiten beim Radfahren loswerden.
Ihr alle kennt ja Freddy, das Schlachtross, welches mir seit ungefähr 18 Monaten treu und ergeben dient. (Falls du an dieser Stelle schon ins Stottern kommst, empfehle ich dir ein wenig Geschichtsunterricht nachzuholen und dich von diesem Artikel an durch die Rubrik “Freddy – das Centurion-Crossbike” zu quälen (komischerweise habe ich noch nie gehört, dass sich da jemand quälen muss). Du darfst aber hier ruhig weiterlesen, denn die Geschichte um Freddy und seinen extrem tapferen Reiter, den unglaublichen …. ach lassen wird das. Es tut nichts zur Sache.)
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja – ich bin Brillenträger und nachdem sich im Sommer meine langjährige 14€-Plastik-Fahrradbrille irreversible entzweite, bin ich auf mein allererstes Nasenfahrrad umgestiegen. Ich könnte auch schreiben “meine vorletzte Brille”, aber das klänge doof und verriete außerdem, dass ich in inzwischen knapp 16 Jahren Brillenträgerei erst zwei Brillen hatte bzw. bei noch habe. Die gute – weil teurere und stylischere – Brille trage ich zu offiziellen Anlässen wie Arbeiten, Freizeit und Leben im Allgemeinen. Die alte – die immer noch scharf ist – verwende ich in der restlichen Zeit, welche maßgeblich aus handwerklicher Arbeit und Radfahren besteht. Es gibt noch eine dritte Zeit in der ich keine Brille trage!
Obwohl ich gut ohne Brille sehen kann, setze ich mir die alte Brille gerade beim Radeln auf. Weil es sich irgendwie richtig anfühlt und außerdem den Augen einen gewissen Schutz vor selbstmörderischem Fluggetier bietet, dem der gemeine Radfahrer in freier Wildbahn ansonsten schutzlos ausgeliefert ist. Diese Brille hat aber eine Besonderheit, die im Sommer noch recht nützlich, sich aber in einen bemerkenswerten Nachteil verwandelt, sobald das Tageslicht sich verkrümelt: die Brillengläser dunkeln selbstständig ab! Nicht so stark wie bei einer echten Gefahr-O-Sensitiv-Brille, aber spürbar.

Erklärung für Unwissende:
Die Gefahr-O-Sensitiv-Brille verdunkelt sich automatisch bei Gefahr. Weil man die Gefahr also gar nicht erst wahrnimmt, verfällt der Träger nicht in Panik.

Wenn die Gefahr-O-Sensitiv-Brille dein Interesse geweckt haben sollte, empfehle ich zu weiteren Informationszwecken den Anhalter von Douglas Adams.

Doch kommen wir mal langsam zu des Artikels Kern – der Nachtfliegerei.
Der erste Montag nach der Zeitumstellung auf Winterzeit führt wie bereits erwähnt dazu, dass es schon mächtig gewaltig an Helligkeit fehlt, wenn man abends auf das Rad steigt, um die ca. 24,53 oder 24,38km nach Hause zu radeln. So genau weiß ich es gerade gar nicht und ich bin von dieser Geschichte zu gefesselt, dass ich einfach so aufstehen und nachsehen kann.

Genau dieser erste Winterzeit-Montag fand auch dieses Jahr statt. Ich rüste mich also für den Heimritt und habe wie gewohnt meine Radbrille auf.

Die ersten Meter des Heimwegs sind immer toll. Es geht steil bergab und ich verfalle regelmäßig in einen kleinen Geschwindigkeitsrausch, wenn die Anzeige Werte jenseits der 50km/h anzeigt, die sich auch noch rapide der 60km/h-Marke nähern können, bevor ich aus verkehrsführungstechnischen Gründen leider bremsen muss. Dieser Grund ist eine Linkskurve mit angebautem Blumenkasten, den Fahrradfahrerhasser gleich dahinter installiert haben. Wenn es ganz dumm läuft parkt genau davor noch ein Auto. Manchmal sogar zwei, was immer ziemlich hektische Aktionen erfordert, weil sich der Bremsweg plötzlich dramatisch verkürzt. Normalerweise bremse ich nur kurz an und umkurve den Mistkasten, um anschließend beschwingt mit 50 durch die 30er Zone zu brettern. Aber manchmal gibt es sogar in der entlegenen Gegend, wo das Büro ist, Gegenverkehr. Dann kann es u.U. sehr kritisch werden. Ich habe das früher schon lernen und mich ein, zwei mal mit waghalsigen Sprüngen auf den Gehsteig retten müssen, bevor ich in das gegnerische Auto oder den blöden Blumenkasten geknallt wäre. Beides übrigens mit recht geringen Siegchancen für mich.

Besagten ersten Winterzeitmontag 2013 stellte diese erste gefährliche Ecke kein Problem dar: es gab keinen Gegenverkehr und auch kein parkendes Auto vor dem bösen Blumenbollwerk. Ich flitze also den Berg hinunter und wende mich ganz normal der Heimatrichtung zu, welche durch eine Siedlung führt. Eine Siedlung mit Einwohnern und Durchgangsverkehr. Eine Straße mit Autos, die mir entgegenkommen. Autos mit Licht! Licht welches mir ins Gesicht scheint. Viele kleine Sonnen! Und genau in diesem Moment versagt die Gangschaltung, die ich aus purer Gewohnheit vom 21ten in den 22ten Gang schalten wollte. Ich versuche also ein wenig irritiert die Gangschaltung Freddies zur Zusammenarbeit zu überreden und gleichzeitig gegen die Sonnen anzublinzeln, die dazu führen, dass sich die (jetzt kommt der Grund für die ausführliche Einleitung!) selbsttönenden Gläser meiner Brille abdunkeln. Es kann auch sein, dass ich gleichzeitig noch den MP3-Player zurückspulen wollte, weil der Track vorher so geil war. Ich bin mir aber da nicht so sicher, denn … ich machte einen komischen Schlenker und prallte recht schmerzhaft auf Asphalt.

Was bei Tageslicht überhaupt kein Problem darstellt, ist bei Dunkelheit ziemlich problembehaftet. Noch dazu, wenn man eine Brille trägt. Dunkelheit führt dazu, dass das Sichtfeld sehr eingeschränkt wird. Bei Tageslicht ist der Sichtkreis, den man durch die Augen wahrnimmt erheblich weitwinkliger als bei Nacht. Da können links und rechts von dir Dinge passieren (oder auftauchen), die du einfach nicht wahrnimmst. Bei entgegenkommenden Autos, die dich blenden, verkleinert sich das Feld der Wahrnehmung noch einmal mehr. Und wenn dann noch Ablenkung durch Supermusik und störrische Gangschaltungen hinzukommt …. dann sieht man plötzlich gar nicht mehr so viel und die Bordsteinkante, zu der man bei Tageslicht automatisch einen gewissen Respektsabstand hält, wächst wie aus dem Nichts in den Lichtkreis des Scheinwerfers.

Ich schreibe das extra deswegen nicht in der Ich-Form, weil ich dich an der verhängnisvollen Verblüffung, die die durch Zauberhand wachsende, ca. 7,83cm hohe Mauer von Bordsteinkante in mir auslöste, teilhaben lassen möchte.

Ich habe noch versucht auszuweichen, aber rechts war verdammt viel üppiges, langes Bordsteinkantenmauerwerk und links war nur “Licht”. Ein Auto. Also entschied ich in der nächsten Nanosekunde den selbstmörderischen Sprung zu wagen und riss den Lenker samt Vorderrad in die Höhe. Leider versuchte das Hinterrad erfolglos dieser abrupten Bewegung zu folgen und schrammte unelegant an der Bordsteinkante entlang, was nun wieder das Vorderrad in Konfusion stürzte. Freddy – total aus der inneren Balance geworfen – schloß sich der allgemeinen Verwirrung an, fand das mit dem Sturz ganz toll und tat das dann auch. Ich ließ Freddy nicht im Stich und glich meinen Bewegungsvektor dem seinen an.

Das Auto bremste. Ich bemerkte das aus dem linken Augenwinkel, als ich mich gleich wieder aufrappelte und Freddy auf die Reifen half.

Mein rechtes Knie schmerzte, im rechten Ellebogen spielte jemand ein Drummer-Solo. Ansonsten war alles wie vorher. Selbst das Rücklicht versprühte Rotlicht. Mein Owleye strahlte wie ein Flakscheinwerfer.

Owleye - eine wirklich helle Fahrradlampe
Das Owleye – eine wirklich gute Fahrradlampe. Das Modell gibts so wie beim Kauf nicht mehr, aber es ist baugleich wie das hier von Litecco!

Ich glaube der Umstand, das ich gefühlte Millisekunden nach dem Aufschlag bereits wieder stand hinderte das gegnerische Blendwerk daran, wahrhaftig anzuhalten und erste Hilfemaßnahmen einzuleiten. Die Welt um mich herum fuhr weiter Auto und ich bestieg mit dem dumpfen Gefühl offener Beinwunden bis zum Hals hinauf mein Rad, um den einmal begonnenen Heimweg fortzusetzen. Freddy sträubte sich ein wenig; war wohl noch benommen. Die Benommenheit konnte ich keine 20m entfernt von der Nachtfluglandung heilen, in dem ich den vorderen Spritzschutz mit brachialer Gewalt in die richtige Position brachte, die eben nicht darin besteht, mit dem Vorderreifen für Reibungshitze zu sorgen.

Ich fuhr anschließend ohne weitere Vorkommnisse bis nach Hause. Dabei war ich die ganze Zeit froh, dass es dunkel war, und ich nicht sehen konnte, was da am rechten Knie war. Oder ob da überhaupt noch Knie da war. Mit unglaublicher Tapferkeit und schmerzstrahlendem Knie kämpfte ich mich bis in die heimatlichen Hallen, wo sich eine Dreifachwunde am Knie meiner Aufmerksamkeit erfreute. Es war keine OP notwendig, nicht mal ein Pflaster legte ich auf die größte der drei Wundstellen mit einem Durchmesser von unnachgemessenen 4cm auf. Das zur Fahrt getragenen leichte Beinkleid wies ein Loch auf, welches interessanterweise nur am Rand mit der Wunde korrespondierte. Ein Phänomen, welches nur die Dehnbarkeit der Odlo-Laufhose unter Beweis stellt.

Tja – das wäre eigentlich genug Nachtfliegerei für diese Wintersaison gewesen, aber damit wäre der Artikel schon zu Ende. Hast du schon genug? Nein? Ich hätte da noch eine kleine Episode, die so richtig gefährlich ist, welche aber ohne Schäden über die Bühne ging, was ich zu deiner Beruhigung gleich vorweg nehme.

Ach was … ich packe die Story “Unheimliche Begegnungen” lieber in einen eigenen Artikel. :-)

3 Gedanken zu „Nachtflug“

  1. Hallo Jörg, dein mit viel Humor geschriebener Artikel über den ersten Winterzeit-Montag und deinem Sturz mit Freddy, hab ich voller Interesse gelesen und finde, dass du Romanautor werden solltest!!! Werde deine anderen Webseiten auf alle Fälle auch noch besuchen, da ich für mein Leben gern koche (auch mit Schnellkochtopf) und backe und das mit Schillermusik im Hintergrund. Na wenn das mal keine gute Mischung ist. Freue mich auf Teil 2 deiner Geschichte und sende dir liebe Grüße zum Bodensee…… maeggie mae

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    • Danke, maeggie, für deine lieben Worte. Freut mich, dass dich meine kleinen Schreibereien interessieren und dir ein wenig Spaß bereiten. Dann haben sie ihren Sinn erreicht.

      Für die Kochseiten brauchst du übrigens auch einen recht großen Zeitpuffer. ;)

      Liebe Grüße vom Bodensee
      Jörg

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